Das räumliche Chaos beseitigen
aus Analytische Bausteine, Seite 140
Die (imperiale) Stadt verstand Land nur als notwendigen Hintergrund für die Ernährung und Versorgung, z.B. der Zentralismus in Frankreich: Paris ist das Zentrum, alles andere ist Provinz. Der Adel hat die erste “Zurück-zur-Natur”- Bewegung ausgelöst. Landstöckel und der Lustgarten kamen in Mode. ln der sozialen und nationalen Krise vor der Jahrhundertwende bis in die Zwischenkriegszeit erwacht das Interesse an Volkskunde und Hausforschung. Es entstehen die Gartenstadtbewegung und die Schrebergartenkonzepte. Die Konsumwirtschaft hat eine Wertkrise ausgelöst und damit die Zukunftsperspektiven der Lebensform verstellt. Zwangsläufig entstand dazu die Alternativbewegung. Die Hinwendung zur belebten Umwelt, dem übersehaubaren Raum, zur neuen Regionalarchitektur, Heimatschutzarchitektur, zu landschaftsgebundenem Bauen, Dezentralisierung, zur Gruppe (frühere Sippe). Alle diese Tendenzen, die in ihrer Gesamtheit das Gesicht der besiedelten Kulturlandschaft entscheidend geformt haben, sind nicht auf dem Land entstanden. Es sieht so aus, als ob im auslaufenden 18. und besonders im 19. Jahrhundert sämtliche kreativen Kräfte durch den Fortschritt der Technik abgezogen wurden.
Der vorher unvorstellbare technische Fortschritt hat im kulturellen
Bereich – besonders in der Architektur – sich mit der Nachahmung von
Stilen als kulturelles Alibi zufriedengegeben. Unoriginell – aber
selbstherrlich – hat die Aufklärung auf dem Lande städtische Maßstäbe
verordnet, z.B. Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumsschulen. Mit
klassizistischem Stuck dekorierten Bauern ihre Häuser.
Als Gegenbewegung entstand in der Stadt die Nationalromantik. Der Blick
ging sehnsüchtig – so wie heute – vom Land in die Stadt und von der
Stadt ins Paradies Land. Die ideologische Hofierung des Landes durch die
Blut-und-Boden-Bewegung und die Reaktion darauf ist die Fortsetzung des
Mißverständnisses.
Der wirtschaftliche Fortschritt setzte nach dem 2. Weitkrieg wieder
ein. Es blieb keine Zeit zu denken, wo anzuknüpfen ist, und die möglich
gewordene Mobilität und die damit heimkehrende Urlauberromantik
zerstörte die letzten Verbindungen zur räumlich historisch gewachsenen
Kultur auf dem Land. Die durch zwei Jahrhunderte erzeugte Krise ist
über Nacht nicht zu lösen, und es braucht Zeit. Den Macher für diesen
Prozeß gibt es nicht, das sind wir alle.
Dazu einige Thesen: Bauen ist gleichbedeutend
- mit einer allgemeinen Erneuerung dieser Weit.
- Eine neue Lebensform suchen, gleich ob wir Konflikten ausgesetzt sind.
- In Systemen und Strukturen denken.
- Rückgewinnung eines unbefangenen kreativen Umganges mit historischer Substanz.
- Die Möglichkeiten unserer Zeit ausschöpfen.
- Den Menschen in uns, den Mitmenschen und die belebte Umwelt wieder entdecken.
In der “Grauzone” des Entscheidungsfeldes besteht die Gefahr, scheinbaren Sachzwängen, Moden, nivellierenden Konsequenzen vorschnell nachzugeben – es entstehen funktionelle Momentaufnahmen, Lösungen ohne Bestand. Kurzzeitlösungen zerstören die räumliche Gelassenheit und das Selbstverständnis der Altvorderen. Es ist eine kulturelle Selbstaufgabe, wenn wir – den vulgärfolkloristischen Klischees, die man dem Touristen unterstellt, entsprechend – die Neubauten mit emotionell ansprechenden Details dekorieren.
Die aktuellen Aufgaben: unter weitgehender Benutzung – nicht Auszehrung – des Vorhandenen eine lebensfähige, erlebnisreiche, die menschliche Identität fördernde Raumstruktur schaffen und das räumliche Chaos bereinigen. Oder stimmt, was ein Bauer im Weinviertel sagte: “Mir is scho klar, de oitn Heisa san was fir’d gonz Oarman, fir’d gonz Spinnatn und fir’d gonz Reichn, oba nix fir unsaran.”
“Wohnbau”, 3/79, E.H.