Ernst Hiesmayr über seine Entwurfsmethode
aus Einfache Häuser, Seite 4
Kleine Häuser erlauben neben Wettbewerbsprojekten dem Architekten, sich im schöpferischen Gestalten zu üben. Sie befreien weitgehend von den Zwängen der gesellschaftlichen und politischen Realität und ermöglichen dem Architekten das Gefühl, ungehindert im schöpferischen Akt zu stehen.
Gewiß gibt es auch dafür Vorbedingungen. Das Wohnen, das örtliche Umfeld, die Psyche der Bauherrschaft sind auszuloten. Der Architekt baut nicht für sich selbst.
Der schöpferische Akt fordert den ganzen Menschen. Zu aller Anfang findet er im Kopf und nicht am Papier statt. Das Arbeiten am Papier ist chancenlos ohne vorherige intensive Auseinandersetzung im Kopf, wobei die Emotionen die Qualität der DatenWerte mitüberprüfen. Die widersprüchlichsten emotionalen und rationalen Elemente werden eingespeichert. Sie dürfen sich dort nicht aufdrängen, sondern man muß ihnen Zeit geben, ins Unbewußte abzusinken, um dann beim Arbeiten am Papier spontan aus dem Unbewußten heraus mitzugestalten.
Räumlich wird im Kopf kombiniert, geprüft und verworfen, bis eine Ahnung oder eine Idee vor dem inneren Auge Gestalt annimmt. Jetzt erst soll versucht werden, die gesicherte Vorstellung und Skizzen auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen. Die Skizze als Subjekt arbeitet als Partner im Dialog gestalterisch mit. So entwickelt sich ein Wesen, gegründet auf gültige Werte unserer Zeit.
Das konzeptive Denken hat eine Gestalt, eine tragende Idee gefunden. Die erste Planvorlage enthält die Grundlinien des Lösungsansatzes, sie ist aber nicht ausgereift. Mit ihr beginnt der Test für die Bauherrschaft: Kann sie den Plan “lesen”, das räumliche Konzept verstehen und ausdeuten? Wo steht die Bauherrschaft kulturell? Ist sie überhaupt befähigt, ihrem Lebensgefühl Ausdruck zu geben? Verfügt sie über ein kritisches oder reflexives Bewußtsein über ihre Zeit?
Die ersten Bauaufträge eines Architekten sind meist kleine Aufgaben, und man ist geneigt, alle Ideen, auch fremde und solche, die man durch die Dialoge mit der Bauherrschaft mit sich herumträgt, in einem Projekt unterzubringen.
Zur Umsetzung hat immer noch die klassische Moderne die stärksten Inhalte bereit. Ihr fühle ich mich verpflichtet, habe keinen Anlaß, sie zu verraten, mag sie aber auch heute nicht dogmatisch anwenden.
Die Gestaltungsarbeit der Natur in ihrer Evolution ist ein weiteres Vorbild. Mit einem Modell natürlich evolutionärer Gestaltungsvorgänge und Regeln trete ich über ein dogmatisches Denken hinaus, in eine nach allen Seiten hin offene Vorstellung von gelebten Inhalten und gestaltender Wesenhaftigkeit.
ln der Entwicklung eines Natur-Wesens findet am Standort regelmäßig eine Vielfalt \Ion Erprobungen von Zwecken, Formen und Farben statt. Bei den Formen und Farben geht die Natur oft über ihre Erfordernisse hinaus. Adolf Portmann spricht hier von Selbstdarstellung. ln ihr leistet die Natur einen wichtigen Beitrag zur Identität, zum Selbstverständnis ihres Wesens. Die Natur scheint meist einen imaginären Formenvorrat für die Entwicklung und perfekte Antworten auf das Lebensumfeld ihres Wesens bereit zu haben. Die “Experimente” zur Hervorbringung bleibender Arten werden durch gelungene Ausformungen verdeckt.
Ähnlich wie die Natur Arten und Wesen generiert, entwickle ich architektonische Typen zu individueller, standortbezogener Ausformung. Das Bau-Wesen muß ein Leistungstyp in seinem Lebensumfeld sein. Das Innen und Außen beginnt im Dialog Gestalt anzunehmen. Während beide, Innen und Außen, ihr Zusammenwirken beginnen, erfolgt gleichzeitig die Überprüfung, ob dieses Konzept Wesen dem Standort gerecht wird und dort sein natürliches Selbstverständnis findet. Daraus erwächst der Typus. Dieser muß aber nicht nur lebensfähig, sondern auch mit Lebensfreude am Standort verwurzelt sein. Diese Lebensfreude wird erreicht, indem die Erlebnisqualitäten des Umfeldes in das eigene, vitale Wesen integriert werden. Es bleibt offen, ob sich die Gestalt der Architektur in das Umfeld einordnet oder ob das Umfeld die Idee akzentuiert.
Das geistige Format der Bauherrschaft und die Möglichkeit, Zukunftsvorstellungen in Räumlichkeit umzusetzen, spielt dabei eine wichtige Rolle. Es ist abzuschätzen, wieviel von den Vorstellungen des Architekten der Nutzer in der Verwirklichung seines Lebens, durch die Gestalt der Architektur ertragen und ausfüllen können wird.
Der letzte Sinn der Arbeit des Architekten ist doch, daß das von ihm
zu schaffende Bau-Wesen vom Nutzer auch angenommen wird. Die Zeit des
eigenen Sehens und Erkennens, des gegenseitigen Aufklärans und
Verstehans von Bauherrschaft und Architekt dauert bei den kleinen
Projekten durchwegs eine geraume Weile, vielleicht ein Jahr oder noch
länger.