Post mortem
Walter Tschokke
in Geschautes, Seite 263
[…] blieb Ernst Hiesmayr ein überzeugter Moderner, Neuem gegenüber immer offen. Zugleich war ihm das gedankenlose Über-Bord-Werfen von Traditionen zu respektlos, weil er den kulturgeschichtlichen Wert zu erkennen und zu beurteilen vermochte. Daher war ihm der Dialog über die Zeiten ein Anliegen. All dies und mehr ist in seinem letzten Werk enthalten.
Reinhard Gallister
Aus einem unfertigen Brief
An Professor Ernst Hiesmayr
Wien, Juli 2006
Dein Körper, Dein Gesicht – als ob Du ein Prinzip Deiner Architektur in letzter Konsequenz an Dir selbst verwirklichen wolltest: Reduktion auf die Essenz, kein Schnörkel, kein Zierrat. Nur mehr Blick und Sprache.
Ein schlotternder Anzug über dem abgemagerten Körper. An Giacomettis Skulpturen musste ich denken – oder mit Deinen eigenen Worten: fast nur mehr abstrakt. Nur mehr Blick und Sprache – doch welche Augen, welche Worte!
Immer noch der suchende Blick, die Neugier und Unruhe, immer noch Deine junge Wachheit aus einem alten Gesicht. Und die Sprache – aus jedem Satz klingt: es bleibt nicht mehr viel Zeit, Konzentration bitte, Genauigkeit, kein Gerede.
[…]
Viel mehr als aus Studium und Literatur haben wir von Dir über das Wesen
der Architektur erfahren: wie sehr eine gute Idee sich fast von selber
weiterträgt; wann man den Knoten, in den man sich verstrickt hat,
zerschlagen muss; wie erst Reduktion in Material und Form zu Prägnanz
und Schärfe führen; was gestalterische Disziplin ist, jedoch immer die
Ethik über der Ästhetik steht.
Dass die Fragen der Angemessenheit zu klären sind, wann gewisse Dinge
„schlicht“ sein müssen; zu entscheiden, wo das Grobe, wo das Verfeinerte
angebracht sind; dass der Architekt ein sorgsamer Beobachter zu sein
hat, ein vorausschauender, da er nicht nur für den jeweiligen Bauherrn
sondern mehr noch für die nachfolgenden Generationen baut.
Und ganz wichtig: in allem forscht Du nach Persönlichkeit: Im Bauherrn und Gesprächspartner, aber auch im Baum, im Bauwerk, dem alten oder neuen. Mancher einfacher Hütte gestehst Du mehr Persönlichkeit zu als einem Palast – und schreibst ein Buch darüber.
Unbeirrbar den Kern der Dinge zu finden – genau das stellt ein besonderes Merkmal Deiner eigenen Persönlichkeit dar.
[…]
Was Du von Reisen mitbringst: jedes Mal zum Staunen. Eine Fülle von
Zeichnungen, Aquarellen, Dein Auge für Fotos, Material für neue Bücher.
Doch keineswegs auf die Architektur beschränkt. Dich hat immer viel mehr
interessiert: die Geschichte und Lebensumstände eines Landes bis hin zu
seinen Schriftzeichen.
Schließlich das Beeindruckendste. Wie schaffst Du es, Dich so
ernsthaft und intensiv mit den Wurzeln und Traditionen unserer Kultur
auseinander zu setzen – und gleichzeitig so offen zu sein für die neue
Kunst? Nicht unkritisch, doch stets informiert und auf dem Laufenden.
Zu Deiner Ehrung in der Musikuniversität wurden passende Musikstücke
gesucht. Mein Vorschlag war: Avantgarde, das unkonventionellste, das ihr
schafft.
Du hast etwas in uns gepflanzt, das uns niemand mehr nehmen kann. Danke.